von Alicia Dieminger im Gespräch mit Eivind Leiland, Hedda Stegemann und Steffi Burmeister

Noch nie blieben so viele Menschen nach dem Gemeinschaftskurs im ZEGG. Von 28 Menschen, die im März 2021 zusammenkamen, leben fast ein Jahr später immer noch 18 am Platz. Was hat es so attraktiv gemacht, im ZEGG zu bleiben und als Gruppe zu wachsen? Was waren Entwicklungslinien, die eine Gemeinschaftsbildung gefördert haben? Und was waren die schwierigen Stellen? Beleuchtet werden die Themen Zugehörigkeit, Bildung einer Gruppenidentität, das Integrieren von Altem und Neuem, Raum & Rang, Eigenverantwortung, Gemeinschaftssinn und Commitment.

 

Vorab braucht es einen Blick auf die gesellschaftlichen Außenbedingungen, bevor wir versuchen, die individuellen und Gruppenentwicklungen zu beschreiben. Das große Interesse am Kurs und Gemeinschaftsleben entstand sicher auch aus den isolierenden Lebensbedingungen im ersten Lockdown Winter 2020/21. Das Bedürfnis nach Kontakt war groß und nach anfänglichen Vorsichtsmaßnahmen und Diskussionen im Gemeinschaftskurs wurde ein Umgang mit den Covid-Hygienemaßnahmen gefunden, der trotzdem Begegnung ermöglichte. 

Ankommen. Gruppenbildung, die 1. (Gemeinschaftskurs)

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Für die Zeit im Gemeinschaftskurs beschreiben viele Teilnehmer:innen, dass sie die Menschen zunächst als sehr heterogen wahrgenommen haben, mit wenig Gemeinsamkeiten und vielen eigenen Themen. Die Frage und Unsicherheit „Gehöre ich dazu?“ spielte eine große Rolle: „Der Run auf die Mitte war groß und die Befindlichkeiten sehr unterschiedlich“, erzählt Steffi. Im Lauf des Kurses entwickelte sich ein Kennenlernen und Verbinden, das durch die gut gehaltenen Räume und hilfreichen Methoden gefördert wurde. Die leitenden ZEGG Mitglieder brachten theoretische Inputs und Übungen ein und gaben Raum für die eigene Prozessarbeit: “Barbara, Ina und Achim haben da echt was geleistet als sie den Rahmen für uns gehalten haben, in dem wir so unterschiedliche Menschen zusammenkommen konnten” (Steffi). „Ich mochte den Mix aus Theorie, anderen Aktivitäten und Wir-Räumen“, berichtet Eivind. Als besonders hilfreich blieben Forum, Kommunikationsübungen wie „Was steht zwischen uns?“, die Haltung „Das Leben ist für dich“, das Ölritual und das Kernschalenmodell von Wilhelm Reich in Erinnerung.

Entwicklungslinie: Zugehörigkeit und Körperkontakt

Wesentlich war auch das gemeinsame Leben im Motel, das zusammen Essen, Wohnen und Schlafen fanden die meisten sehr verbindend: “Wir waren bereit für fünf Wochen eng miteinander zu wohnen, uns intensiv kennenzulernen“, erzählt Hedda: „Bei wichtigen weltanschaulichen Fragen (Ökologie, Politik, Selbstreflexion, offene Sexualität) habe ich auch gleich eine große Übereinstimmung gespürt, verglichen mit Kontakten in meiner Arbeitswelt und Familie”. Was für manche Menschen eine beklemmende Vorstellung sein mag (Verlust der Privatsphäre) erlebten die meisten im Kurs als Bereicherung: „Dadurch, dass wir (fast) alle zusammen in einem Raum übernachtet haben, hatte ich keine Angst “rauszufallen”. Der Schlafraum war immer sehr ruhig und ich konnte gut dort schlafen. Außerdem hatten wir superlustige Zeiten im Motel, in der gemeinsamen Kleiderkammer und im Wohnbereich, wo wir oft bis zur Schmerzgrenze gelacht und viel gekuschelt haben“ (Hedda). Das Leben als ein Haushalt ermöglichte Körperkontakt auch in Zeiten von Corona: „Wir haben Kuschelrekorde aufgestellt, mit 14 Leuten zusammen aufs Sofa. Wir waren auch ausgehungert nach der Coronazeit und das war dann seelische Nahrung und hat uns wieder aufblühen lassen. Das hat uns geholfen, uns wieder mit anderen Menschen und mit Nähe wohlzufühlen“ (Steffi).

Entwicklungslinie: Gruppenidentität „Willi Reich“

Eine Besonderheit des Jahrgangs 2021 war die Bildung einer Gruppenidentität über die Einzelnen hinaus. Durch den Witz eines Teilnehmers im Gemeinschaftskurs wurde Wilhelm Reich der Namenspatron und Avatar für diese. Doch wie genau entstand die „Willi-Gruppe“?

Zu Beginn gab es den Impuls gemeinsame Ökonomie in der Dorfkneipe auszuprobieren, als Experiment und Ausgleich für das sehr unterschiedliche Einkommen der Einzelnen. Das für alle eröffnete Bezahlkonto in der Dorfkneipe brauchte im Computersystem einen Namen und wurde spontan „Wilhelm Reich“ getauft. Auf einmal gab es einen gemeinsamen Namen, die „Willi-Gruppe“ wurde sie ab da auch immer öfter von anderen genannt.

Ein weiterer Schritt der Gruppenbildung geschah bei der Frage, wer nach dem Gemeinschaftskurs als Saisonier weiter am Platz bleiben könne. Es wurden keine individuellen, sondern nur eine Gruppenbewerbung auf den Namen Wilhelm Reich ans ZEGG geschrieben. Dieses lud fast alle, aber drei Menschen auch nicht ein. Was eine starke Reaktion der Gruppe auslöste: „Da gab es ein Plenum als sehr kraftvollen Moment, wo wir uns selbst ermächtigt, einen Brief geschrieben und uns der Entscheidung des ZEGG entgegengestellt haben. D.h. uns gemeinsam als Gruppe dafür eingesetzt haben, dass alle hierbleiben können“ (Eivind). Das ZEGG ließ sich darauf ein, ein Erfolg für die Gruppe.

Die positiven Zuschreibungen von außen auf die Gruppe nahmen zu, sogar über das ZEGG hinaus sprach sich herum, dass es jetzt eine experimentelle neue Gruppe namens Wilhelm Reich gebe. Es wurde positiv projiziert und die Mitglieder wunderten sich manchmal selbst, was es da an Bildern über sie gab. „ Da gab’s ne Kluft zwischen dieser Idealisierung von außen und der Innenwahrnehmung „So toll sind wir ja gar nicht“ und so einig als Gruppe auch nicht“, erzählt Steffi. Es hätte viel mehr Unterschiede zwischen den Menschen gegeben als von außen wahrgenommen, manche hätten nicht konsumiert werden wollen von der Gruppe und wollten lieber als Individuen in die Gemeinschaft hineinwachsen. Diese Auseinandersetzungen liefen vor allem in der folgenden Saisonierzeit.

Weitergehen. Gruppenbildung, die 2. (Saisonierzeit)

signal 2022 01 22 145233 001Corona förderte das Hierbleiben vieler aufgrund des unattraktiven, isolierten Lebens draußen und der Möglichkeit des Homeoffices. Für manche war nicht der Einstieg ins ZEGG das Hauptmotiv für die Saisonierzeit, sondern weil es mit der Gruppe so schön war. Nach dem Kokon des Gemeinschaftskurses ging es nun mehr darum, einen Alltag im ZEGG zu entwickeln und das vorherige Leben mit dem neuen hier zu integrieren.

Entwicklungslinie: Altes und Neues integrieren

Für einige der Saisoniers wurde es in den folgenden Monaten ruhiger, für die meisten sehr viel stressiger, weil sie den bisherigen Job draußen wieder aufnehmen mussten, online oder pendelnd, und gleichzeitig mindestens zwei Vormittage in einem ZEGG Arbeitsbereich wie Garten, Küche, Geländeteam, Öffentlichkeitsarbeit mitarbeiteten. Dazu kamen viele Gruppentreffen, eine Hüterschaft auf dem Gelände und die Mitarbeit bei der Spül- und Kochgruppe. Es musste sich viel einruckeln. Und erst langsam entstanden Regelmäßigkeiten wie auch ein Einblick in das sehr komplexe ZEGG, seine Menschen und Verantwortlichkeiten: „Es gab da auch die Unsicherheit, alles richtig machen zu wollen in einem System, das schwer zu verstehen ist wie zum Beispiel das Gelände-Team“, erzählt Eivind. Saisoniers und Zeggies mussten sich erst kennenlernen und dabei schon voll zusammenarbeiten, so auch beim Sommercamp.

Auch die Situation, in der sich die bisherige ZEGG Gemeinschaft befand, war besonders und für Einsteiger:innen eine Herausforderung. Schon vor und spätestens nach dem Sommercamp gab es Auseinandersetzungen und Gemeinschaftsklärungen, so dass sich die Gemeinschaft neu finden musste und gar nicht klar war, in was für eine Gemeinschaft die Neuen nun hineinwachsen würden.

Entwicklungslinie: Raum und Rang

Auch intern gab es Spannungen in der Saisoniersgruppe, vor allem über die Wohnverhältnisse. Für eine so große Gruppe gab es keinen Wohnraum und so zog ein Teil auf den ZEGG-eigenen Zeltplatz:  es entstand das “Waldviertel” mit Zelten und die Crew an „Deck“, der eigentlichen Saisonier-WG. Hier brauchte es immer wieder Kommunikation, um die entstehenden Vorbehalte und Missverständnisse auszuräumen. Es kam zu Auseinandersetzungen über Privilegien, Raum, Rang, Wohnstandards. Wenn die dahinter liegenden Bedürfnisse und Unterstellungen benannt und geklärt werden konnten, wurde es leichter. Das klappte nicht immer, es gab viele Emotionen und Unterschiedlichkeiten: „Es gab auch die Ernüchterung, dass wir uns doch noch nicht so lange kennen, verglichen mit Freundschaften draußen“ (Steffi).

Doch insgesamt nahm die Konfliktfähigkeit zu und Eivind beschreibt den Prozess im Gemeinschaftskurs und den folgenden Monaten so: „Nach und nach habe ich alle einzeln mehr kennengelernt und wir hatten als Individuen und als Gruppe mehr Erfahrung darin, wie wir auf andere Menschen reagieren, vor allem, wenn sie unterschiedlich sind oder wenn es Konflikte gibt“.

Und wieder gab es am Ende der Saisonierzeit vom ZEGG die Bereitschaft und Entscheidung, dass die Gruppe als ganze bleiben konnte und dass nicht individuell entschieden wurde, auch wenn einige wenige aus persönlichen Gründen das ZEGG verließen.

Hierbleiben. Gruppenbildung, die 3. (Wintergästezeit)

signal 2022 01 23 140910 bIm Winter wird es traditionell ruhiger im ZEGG. Doch auch dies war dieses Jahr anders, da neben einer großen Corona-Welle und entsprechenden Auseinandersetzungen nun Zeit für weitere Gemeinschaftsklärungen und Intensivzeiten war. Die Gruppe „Willi Reich“ fand in der gästefreien Zeit über Weihnachten und im Januar wieder mehr zusammen. Die Großküche war geschlossen und es wurde zusammen gekocht, die WG-Küche wurde wieder Begegnungsraum. Verbindend war die Suche nach einem Umgang mit dem nahenden Statuswechsel (wer darf nach dem Winter bleiben?) und der notwendigen Wohnraumsuche (wer kann wo wohnen?). Auch hier werden gemeinschaftliche Lösungen angestrebt. Gerade wurde entschieden, dass erst einmal alle Wintergäste hier im ZEGG bleiben können und die Wohnungssuche nicht wie sonst individuell stattfindet.

Entwicklungslinie: Toleranz und Eigenverantwortung

Die Menschen, die blieben, haben einen Umgang mit ihren Triggerpunkten, mit der anfänglichen Überforderung und immer wieder Überreizung gefunden. Es wird ein entspannterer Umgang mit Konflikten beschrieben, weniger Überreagieren auf andere Menschen und Meinungen: „Unsere Plena sind manchmal schwierig und Diskussionen über die Raumverteilung auch, aber wir schaffen das immer“, beschreibt Eivind. Aus schneller Reaktion wurde immer mehr Resonanz. Und mehr Toleranz für andere Identitäten und Lebensentwürfe. So veränderte sich die Haltung vieler zu Transgender und Homosexualität, zu Sex-Positivität; alles Prozesse, die Zeit und Begegnungen brauchen.

Entwicklungslinie: Gemeinschaftssinn und Commitments

Viele wechselten nach und nach von einer individuellen Perspektive und Interessensvertretung auf eine gemeinschaftliche: „Und das ist ja auch das, was ich nur in Gemeinschaft ausprobieren und lernen kann. Und was wir brauchen für eine neue Kultur und ein neues Bewusstsein“ (Steffi). Die Gruppenidentifikation und Nähe wuchs im Winter noch mal: „Wir haben schöne Räume geschaffen, zum Beispiel Gruppenabende im Blauen Salon, den Massageabend fürs Saisonierbegleitungs- Team (Eva, Kati, Jo, Simon, Markus), an Geburtstagen, wir kuscheln viel, es gibt spontane Sessions in der Küche“ erzählt Steffi. Der nächste Schritt sollen gemeinsame Commitments sein und wie diese aussehen könnten, z.B. Transparenz, was heißt das genau?

Fazit: Was hat Verbundenheit und Gemeinschaftsbildung schwer gemacht? Und was unterstützt?

Besserwisserei, Intoleranz, GeRANGel haben viel erschwert. Wie begegnen sich erwachsene Menschen und finden einen guten Umgang mit Rang, Macht und dem Bedürfnis wirksam zu sein, zusammen kreieren, entscheiden und sich ausrichten zu wollen? Hier war der Umgang mit Wut oft schwierig bzw. die Unterdrückung dieser führte zu mangelnder Klarheit bei Einzelnen und in der Gruppe.

Auch gab es mehrfach den Wunsch, dass sich das ZEGG noch mehr von den neuen Menschen wie auch von aktuellen Strömungen und Erkenntnissen draußen inspirieren lässt, z.B. Geschlechtsidentitäten, Queer, Forschung zu Polyamorie.

 

Die Gemeinschaftsbildung unterstützt haben Kuscheln, Einbettung, Verbindungsräume gemeinsam kreieren, etwas gemeinsam vertreten, eine positiv besetzte Gruppenidentität wie Willi Reich. Was noch hilft: Nicht alles persönlich nehmen, Grenzen besser setzen können, mehr durchfließen lassen. Resilienz.

Deutlich wurde auch, dass es besonders ist, die eigene Entwicklung im Rahmen einer Gruppe zu machen. Innerhalb dieser war es möglich, Selbstbilder zu überprüfen und bisher unbewusst gelebte Mythen wie „Du musst es alleine schaffen“ zu verändern: „Ich hatte vorher die Geschichte, dass ich ein introvertierter Mensch bin, der viel Raum für sich zum Verarbeiten seiner Emotionen braucht und nicht abhängig und bedürftig sein darf. Als Teil des Willi Reich Gruppenkörpers konnte ich mich immer mehr einbetten, habe mich aktiv beteiligt und mitgeteilt, Bedürftigkeit gezeigt, gekuschelt, gecouncelt und bin insgesamt viel glücklicher“, erzählt Eivind.

Nun endet der Versuch, ein so komplexes Geschehen wie die Erfahrung von 28 Menschen in fast einem Jahr auf wenige Themen zu reduzieren. Viele Facetten und Stränge sind noch unbenannt und das Experiment geht weiter. To be continued...