Über eine Forschungszeit im ZEGG

von Barbara Stützel und Elmar Dirk

In unserer Gemeinschaft zeigen sich wie überall in der Gesellschaft unterschiedliche Meinungen zum Thema Corona-Virus, Schutzmaßnahmen und politischem Umgang damit. Auf der Ebene des Bildungszentrums setzen wir die Vorgaben der Regierungen um, zum Schutz unserer Gäste. Aber unser interner Umgang unterliegt keinen so eindeutigen Regeln.

Die Gemeinschaft setzt auf die Eigenverantwortung aller BewohnerInnen, darauf, dass alle in der Lage sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse selber zu artikulieren und ihr Handeln am  Wohlergehen der ganzen Gemeinschaft zu orientieren. Und hier klaffen die Einschätzungen auseinander, was das bedeutet. Auch in unserer Gruppe „Radikal Gemeinsam“ zeigen sich diese Gräben.

Auf unserer Intensivzeit Anfang Januar nehmen wir uns Zeit, uns zu sehen, zu fühlen und wieder Brücken zu bauen. Der erste Tag dient ausschließlich dazu, herauszufinden, wie wir uns unter Coronabedingungen zu Gruppenzeiten verpflichten wollen. Wir nehmen von liebgewonnen Traditionen Abstand, gemeinsam zu übernachten, zu essen… und treffen uns 10 Tage mit Abstand und teilweise Masken täglich von 16 – 19 Uhr. Hier ist ein sicherer Raum, die hinter den Meinungen liegenden Haltung ausführlicher zu hören und dahinter zu gucken.

Ines ist entsetzt, dass Menschen aus ihrer gefühlt linken Gemeinschaft auf eine Querdenker Demo gehen, zu der auch Neonazis aufgerufen haben. Georg ist entsetzt, dass Menschen aus seiner gefühlt kritischen Gemeinschaft die Medien nicht hinterfragen.

Detlef versteht nicht, dass er schablonenhaft abgeurteilt wird, nur weil er auf einer Demo seine Meinung frei äußert.

Barbara gerät in Panik, bei der Vorstellung, rechte Gruppierungen könnten in Deutschland Wahlen gewinnen.

Ellen als Jüdin ist entsetzt über die Holocaust-Vergleiche. Ralph darüber, dass angeblich nur im Osten Rechte existieren.

Warum denken wir so, wie wir denken? Und was hat unsere Vergangenheit damit zu tun?

Den Anfang macht Ines. Ihre Großeltern waren Nazis und sie hat sich geschworen: Nie wieder Faschismus. Sie berichtet von ihrem lebenslangen Engagement in antifaschistischen Gruppierungen, wie wichtig es ihr ist, Narrative zu überprüfen und dass eben nicht jede Meinung neben der anderen stehen darf.

Georg kommt ebenfalls aus der linken Szene, er weiß, dass vieles im System veränderungswürdig ist. Zunächst beschäftigt er sich nicht wirklich mit Corona und seinen politischen Auswirkungen. Als aber Freunde Bücher empfehlen und andere diese vehement ablehnen, weil sie von Querdenkern empfohlen werden, erwacht sein Widerspruchsgeist: warum können wir nicht über Fakten sprechen, sondern grenzen uns verbal beleidigend von der anderen Meinung ab?

Barbara liest tagelang Geschichten aus der Nazizeit, die Erlebnisse ihres Vaters und Ergebnisse transgenerationaler Traumaforschung, sie teilt ihre Erkenntnisse mit der Gruppe. Ihre Auseinandersetzung mit der Sehnsucht nach Intensität in ihr und dass gleichzeitig diese Energie immer wieder in ihr gebremst ist, bringt sie mit der Begeisterung ihres Vaters für die Hitlerjugend in Verbindung. Seine Radikalität hat ihn letztlich dazu gebracht, zu desertieren - wo muss sie heute Nein sagen?

Detlef ist in einer regimetreuen Familie in der DDR aufgewachsen („150 %ig“). Er hat sich lange für den Sozialismus engagiert, auch direkt nach der Wende unterstützt, dass Belegschaften ihre Firmen übernehmen können. Und musste mit ansehen, dass der Westen dies nicht zuließ. Und die öffentlichen Medien ein Bild der DDR übermittelten, das seinen Erfahrungen widersprach. Dann stieß er auf alternative Medienkanäle. Seither vertraut er diesen mehr als den öffentlich-rechtlichen, eine Zeitlang engagierte sich für eine Neugestaltung der „BRD GmbH“ - um eine bessere Demokratie zu schaffen.

Bei Gesprächen über Diktaturvergangenheit wird Ellen innerlich ganz taub. Als der Vorschlag aufkommt, ein gemeinsames Trauerritual zu machen, kann sie noch nicht mitgehen. Alleine als Jüdin in einem Feld von fast nur Deutschen sieht sie die Folgen des Holocaust nicht genug berücksichtigt und lehnt jegliche Verharmlosung oder Gleichsetzung der Opfergeschichten der Deutschen ab. Ein Trauerritual ist ihr sehr wichtig, aber es bedeutet für sie etwas anderes und sie braucht noch einen gemeinsamen Prozess vorher, damit wir das mit fühlen können. Als sie einwirft, dass im Osten der Holocaust nicht aufgearbeitet wurde, empört sich Ralph.

Mit einer kommunistischen Erziehung in der DDR aufgewachsen, sieht er im Gegenteil eine dominante Präsenz des Holocausts in der Geschichtserzählung. Er wehrt sich gegen das Narrativ, dass derzeit im Osten mehr Rechte seien als im Westen und berichtet von der massiven finanziellen Unterstützung rechter Gruppierungen durch den Westen.

Und Zisula? Noch findet sie keine Worte. Ihr Leben ist geprägt von den Kriegsverbrechen der Deutschen in Griechenland, ihre Familie ist, da sie Kommunisten waren, geflohen und so wuchs sie als Flüchtling in Rumänien auf. Sie ist berührt von den Erzählungen ihrer Freundinnen von beiden Seiten Deutschlands und fühlt, dass es auf dieser Basis leichter ist, demnächst auch ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Diese Gespräche brauchen Zeit, sie ziehen sich über mehrere Tage. Wir bleiben an Prozessen dran, auch wenn sie unangenehm sind, vertagen sie aber auch einmal, wenn es gar nicht weiter geht. Immer wieder die Frage, was ist hier und jetzt dran, was genau möchte jetzt getan oder gesprochen oder gehört werden. Je emotionaler eine Situation wird, desto heftiger und schneller sind die Reaktionen. Um Gesagtes und Gehörtes wirken zu lassen führen wir ein, nach jedem Beitrag eine Klangschale zu läuten.

Was nicht funktioniert: sich Wahrheiten um die Ohren zu schlagen. Um zusammen zu kommen, hören wir uns zu und fühlen mit, jede Lebensgeschichte bekommt ihren Raum und Interesse, Mitgefühl und Verständnis. Langsam aber sicher entsteht wieder das Gefühl von Verbindung.

Und es bleibt nicht beim reinen Zuhören. Menschen bekommen auch Feedback. Aber erst, nachdem eine Person mit ihrer ganzen Geschichte wahrgenommen und gefühlt wurde, kann sie sich auch hinterfragen lassen. So teilen jeweils die anderen in der Gruppe mit, wo sie Schlussfolgerungen und Verbindungen zur heutigen Situation als möglicherweise nicht adäquat empfinden. Niemand hat die Wahrheit, aber jede*r ihre eigene Wirklichkeit.

Und wir können nur weiter in einer Gemeinschaft zusammen arbeiten, wenn wir diese miteinander teilen, Empathie zu Verstehen führt und wir uns durch andere Sichtweisen hinterfragen lassen. Wir gehen diesen Weg weiter.

 

*Namen zum Teil geändert