von Christian Bliss

Wie viele andere hatten und haben auch wir in der ZEGG-Gemeinschaft in der Corona-Krise eine herausfordernde Zeit. Die äußeren Geschehnisse und Anforderungen haben wir bisher erstaunlich gut bewältigt. So steht unser Bildungszentrum finanziell (vor allem wegen vieler regelmäßiger und großer Spenden und der Möglichkeit von Kurzarbeit) nicht ganz schlecht da und hat die Schließung während der Lockdowns gut verkraftet. Einmal mehr fühlen wir große Dankbarkeit, dass unsere Arbeit von so vielen Menschen getragen wird. Ohne euch ginge es nicht!

Es waren eher die inneren Vorgänge in der Gemeinschaft, die uns Kraft und Nerven gekostet haben. So waren wir über die Corona-Maßnahmen sehr unterschiedlicher Meinung und haben uns teilweise in Diskussionen nicht mehr wiedererkannt. Es wurden Unterschiede sichtbar, die vermutlich zwar auch vorher schon da waren, jedoch bisher unter der Oberfläche geblieben waren. Weil nicht wirklich die Notwendigkeit bestand, sich politisch zu positionieren und die persönliche Betroffenheit nicht so da war.

Die Corona-Entwicklungen haben auch bei uns Verunsicherung ausgelöst – und viele unterschiedliche Strategien, damit umzugehen. An der Vehemenz mit der diskutiert wurde, lässt sich ablesen, wie groß die Ängste waren, auch wenn wir uns dessen vielleicht gar nicht bewusst waren. Egal auf welcher Seite, es gab viel emotionale Ladung, viele Absolutheitsansprüche und wenig Empathiefähigkeit für andere Meinungen. Der Blick wurde enger.

Mal überspitzt gesagt: Es war ja auch schön, dass wir uns in den letzten 20 Jahren irgendwie einig gefühlt haben und politische Debatten gar nicht führen mussten. Jetzt ging es darum, herauszufinden: Wie können wir unterschiedlicher Meinung sein und uns auch mal blöd finden, ohne gleich die Freundschaft aufzukündigen?

Im September in unserer Gemeinschafts-Intensivzeit ist es uns gelungen, unseren inneren Raum zu vergrößern und wieder zusammenzufinden. Der Schlüssel war, dass wir einander zugehört und tiefer verstanden haben, wer warum welche Meinung vertritt. Wir haben gesehen, welche Werte und Bedürfnisse dahinter stehen. Und auch, welche unterschiedlichen politischen Biografien, Prägungen und traumatischen Stellen wir haben. Und wir haben wieder spüren können, dass wir jenseits dieses Themas sehr viele Gemeinsamkeiten haben.

Klar ist aber auch: Die Auseinandersetzung hat erst angefangen. Wir dürfen wieder politisch diskutieren – untereinander und mit anderen. Und dafür müssen wir genauer darüber nachdenken, was unsere Meinung ist und wie wir zu ihr kommen. Uns die Zeit nehmen und einen Standpunkt beziehen, ihn begründen und anderen verständlich machen. Und uns ZUGLEICH nicht polarisierend auf eine Seite schlagen, sondern erkennen, dass wahrscheinlich jede*r von uns verschiedene Stimmen in sich hat, die nur unterschiedlich laut sind.

Die nächsten beiden Artikel sind ein Ergebnis unserer Politisierung und unseres Ringens nach Verständigung: Zwei Menschen aus dem ZEGG beziehen mutig Stellung und legen ihre unterschiedlichen Ansichten zur Corona-Debatte offen. Lass uns dies zum Anlass nehmen, unsere Fähigkeit zu einem fairen, differenzierten und konstruktiven politischen Diskurs weiter zu kultivieren.