von Cordula Andrä
Die Corona-Krise war das Hallowach! des Jahres. Auch hier im ZEGG habe ich schmerzlich erlebt, wie schnell sich eine gefühlte Einigkeit in politischen Fragen ändern kann und Polarisierung entsteht, wenn wir herausgefordert sind und es ans Eingemachte geht. Wenn Basisbedürfnisse wie Leben und Gesundheit, Werte wie persönliche Freiheit und Sicherheit, angetastet werden. Die Corona-Krise fordert uns heraus, Standpunkt zu beziehen und dabei in Verbindung zu bleiben. Soviel zu meiner Grundhaltung, die für mich fast wichtiger ist, als meine Meinung zu Corona und dem Umgang damit.
Vorneweg: Ich glaube, dass das Virus existiert und nicht ungefährlich ist. Und ich bin froh, in einem Land zu leben, das Maßnahmen ergreift, um seine Ausbreitung einzudämmen. In Deutschland haben die Intensivstationen bisher ihre Arbeit machen können, es musste niemand an der Krankenhaustür abgewiesen werden. Aus ethischen Gründen halte ich das für eine Errungenschaft.
Ich erschrecke manchmal über den Furor, mit dem mir nahestehende Menschen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung als unzumutbaren Eingriff in ihre persönliche Freiheit ablehnen. Das Tragen einer Maske empfinde ich als vertretbare Einschränkung, wenn es darum geht, mich und andere vor einer schweren Krankheit zu schützen. Das gilt noch mehr, wenn mein Blick über Deutschland hinausgeht. Viele Menschen weltweit sterben an Corona, weil sie keinerlei Schutzmaßnahmen oder Gesundheitsversorgung haben. Das setzt das Tragen einer Maske nochmal in ein anderes Verhältnis.
Wer nichts tut, verstärkt Ungleichheit
Länder, die im Umgang mit dem Virus auf individuelle Lösungen statt auf staatliche Regulierung setzen, bevorzugen diejenigen, die sich zu helfen wissen – zum Beispiel, weil sie über Geld, Beziehungen oder Bildung verfügen. Das zeigt sich in den USA, wo überproportional viele arme und schwarze Menschen an COVID-19 sterben. Auch deshalb schätze ich es, Bürgerin eines Landes zu sein, dessen Regierung sich bemüht, verantwortlich mit der Situation umzugehen. Wer nichts tut, verstärkt bestehende Ungleichheit. Es hat für mich deshalb auch mit Solidarität zu tun, den Maßnahmen zu folgen.
Allen Unkenrufen zum Trotz hat in dieser Krise so manches gut funktioniert: Die Corona-App kam zwar spät, ist dafür aber datensicher. Es ist weder eine Impfpflicht geplant, noch hat es einen drakonischen Lockdown wie etwa in Frankreich oder Spanien gegeben. Und die Gewaltenteilung tut das Ihrige dazu: die Demonstrationsfreiheit wurde gesichert, das innerdeutsche Beherbergungsverbot von mehreren Gerichten gekippt. Was die Verfahrensfehler im aktuellen Infektionsschutzgesetz betrifft: ich gehe davon aus, dass sie spätestens vor Gericht korrigiert werden. So finde ich einige Hinweise darauf, dass die Demokratie in Deutschland auch in einer Krise funktioniert. Das erleichtert mich, und ich nehme dieses Gelingen auch als Verdienst einer kritischen links-alternativen Bewegung der letzten Jahrzehnte wahr.
Warum dieses kategorische Misstrauen?
Wer keine Verantwortung trägt, kann leicht kommentieren und kritisieren. Viel schwieriger ist es, in einer unbekannten und potentiell gefährlichen Situation wie im Frühjahr Antworten zu finden, die einem ganzen Land und seiner Bevölkerung dienen und entsprechen. Im Gegensatz zu vielen anderen kenne ich den Politikbetrieb von innen - aus der Sicht einer Mitarbeiterin der grünen Bundestagsfraktion, in der ich bis 2009 gearbeitet habe. Ich habe dort in erster Linie integere Menschen erlebt, die ihre Aufgabe, Lösungen für das große Ganze zu finden, ernst nehmen.
Warum überwiegt bei vielen die Vermutung, es gäbe geheime Absichten, Manipulation und Egoismus, wenn es um Politik und Politiker*innen geht? Für jeden Menschen, der ein psychologisches Grundwissen über Projektionen hat, müssten hier eigentlich die Alarmglocken schrillen. Im persönlichen Umgang ist es ja schon eine Binsenweisheit, dass es einfach, aber nicht unbedingt hilfreich ist, die Fehler beim anderen zu suchen. Ein bisschen mehr von dieser Haltung wünsche ich mir in der Betrachtung des politischen Geschehens.
Lösungen fürs große Ganze
Was viele gerne vergessen: Deutschland besteht nicht nur aus Menschen, die das Weltbild und die Möglichkeiten der öko-spirituellen Szene haben. Die große Mehrheit der Bevölkerung trägt die Maßnahmen mit und/oder findet sie richtig. Anzunehmen, dass sie alle Schafe wären, die sich manipulieren lassen, ist nur ein Teil der Wahrheit und zeugt zudem von einiger Arroganz. Das demokratische System in Deutschland vertritt in Parlament (und Regierung) eben durchaus verschiedene Interessen und Bevölkerungsgruppen.
Das alles heißt nicht, dass ich die Maßnahmen der Regierung durchweg gelungen finde. Der ausschließlich medizinisch-naturwissenschaftliche Blick, der den Maßnahmen zugrunde liegt, ist zu eng. Die Nebenwirkungen des Lockdowns wie soziale Isolation, psychische Belastungen und globale wirtschaftliche Folgen werden zu wenig bedacht. Eine konstruktive und kritische Begleitung der Maßnahmen in der Presse und durch die linken Oppositionsparteien wären eine echte Bereicherung gewesen. Stattdessen hat ein Entweder-Oder eine echte Diskussion lange unmöglich gemacht. (Ich entscheide mich hier gegen die These von der Lügenpresse und für die Annahme, dass dazu nachvollziehbare und bekannte Mechanismen geführt haben, ohne diese deshalb gut zu heißen). Die Linke und die Grünen öffnen sich jetzt langsam. Die Linke hat gegen das Infektionsschutzgesetzt gestimmt, die Grünen fordern die Einrichtung eines Pandemie-Rates, der mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen besetzt ist. Das finde ich eine erfreuliche, wenn auch späte Wendung.
Wer Zweifel sät, wird Sturm ernten
Was mich richtig beunruhigt: Wie schnell Menschen in meinem Umfeld bereit sind, an einen allgemeinen Impfzwang oder eine bevorstehende Gesundheitsdiktatur zu glauben. Manche bezweifeln auch, dass das Corona-Virus überhaupt existiert. Ich finde, dass mit einer solchen Haltung eine wichtige Grundlage der politischen Kultur aufgeklärter Gesellschaften ausgehöhlt wird: dass es Fakten gibt, über die nicht im Stil von Pro&Contra-Diskussionen verhandelt werden können. Ein anderes Beispiel dafür ist das Infragestellen des Klimawandels. In einer gesellschaftlichen Debatte braucht das Hinterfragen natürlich seinen Platz, aber der Zweifel zerstört auch Vertrauen, weil er andere implizit der Lüge und der Manipulation bezichtigt.
Ich teile die Ansicht, dass wirtschaftliche Interessen in Politik und Gesellschaft zu viel Einfluss haben. Aber dass Menschen bereit sind zu glauben, eine Einzelperson wie Bill Gates könne die Pandemie inszeniert haben, um eine weltweite Impfpflicht durchzusetzen, erschreckt mich. Die demokratischen Mechanismen, die in den letzten Jahrhunderten entwickelt wurden, sind komplex austariert, damit sie eben nicht von Einzelnen oder Gruppen umgangen werden können. Selbst jemand mit viel Einfluss könnte die Regierung in Deutschland samt ihrer wissenschaftlichen Berater*innen nicht so hinters Licht führen, dass sie an eine Krankheit glauben, die es gar nicht gibt oder die einer Erkältungswelle entspricht. Es ist eben leichter, Schuldige zu finden als sich mit einem abstrakten System wie dem neoliberalen Kapitalismus zu beschäftigen – und unser aller Beitrag dazu.
Wenn Menschen aus der alternativen Szene auf Querdenker-Demonstrationen mit AfD, Reichsbürgern und Q-Anon demonstrieren, entsteht ein politischer Kollateralschaden. Er besteht darin, rechtes Gedankengut hoffähig zu machen und einen politischen Stil zu fördern, zu dem die Verbreitung von fake news, Polarisierung und Sündenböcke gehören. Was diese Gruppen eint, ist die Absicht, die Gesellschaft zu destabilisieren und die Regierung zu stürzen. Dann solle 'das Volk' an die Macht kommen und eine neue Verfassung schreiben.
Ich erinnere daran, dass sich 'das Volk' schon in der DDR-Revolution als nationalistisch entpuppt hat. Und daran, dass das Grundgesetz eine der progressivsten Verfassungen der Welt ist. Darin sind die Achtung der Menschenwürde, die soziale Marktwirtschaft und das Verhältniswahlrecht festgeschrieben, um nur einige Errungenschaften zu nennen. Natürlich ist die repräsentative Demokratie nicht der Weisheit letzter Schluss und darf sich weiterentwickeln. Ja, wir brauchen dringend mehr Partizipation. Aber der Weg dorthin wird mit mehr Verhärtung und Polarisierung in der Gesellschaft eher schwieriger.
Seid politisch konstruktiv!
Für mich ist es ein hoher Wert, zu einer politischen Kultur beizutragen, die auf Kooperation setzt. Wir alle sind Teil dieser Gesellschaft und gestalten sie durch unser Handeln mit. Es geht doch darum, mehr Solidarität, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit in die Welt zu bringen. Um das erfolgreich zu tun und die Herausforderungen zu meistern, vor denen wir als Menschheit stehen, gilt es, zusammenzuarbeiten. Mit Akteur*innen an ganz unterschiedlichen Orten: auf der Straße, in der alternativen Szene, in Parlamenten und auch in Regierungen. Dazu gehört, Standpunkt zu beziehen UND einen Stil zu pflegen, der auch in der politischen Auseinandersetzung auf Werte wie Fairness und Gelingen setzt.
In den letzten Monaten waren viele Regierungen bereit, für das Wohl aller in die Freiheitsrechte des Einzelnen einzugreifen und die Wirtschaft erheblich einzuschränken. Das hätte ich vorher für unmöglich gehalten. Für mich ist es ein Zeichen dafür, dass eine Zeit begonnen hat, in der die Regierungen es wagen, das Gemeinwohl über Wirtschaftsinteressen zu stellen. Das ist ein großer Schritt. Wenn wir dann noch aus den Fehlern im Umgang mit der Krise lernen, werden die Erfahrungen mit Corona uns noch viel nützen. Zum Beispiel, damit wir als Gesellschaft in Zukunft wirklich verantwortliche und radikale Schritte für Klimaschutz und Gerechtigkeit gehen können.