Über einen Gesprächsabend im ZEGG berichtet Mara Löffler

Marie und Charlotte haben zum Thema Geschlechtlichkeit eingeladen. Ganz konkret zu einem Austausch über Rollenbilder und unbewusste Boxen, in die wir uns selbst und andere stecken, wenn wir in Begriffen von „Männern“ und „Frauen“ denken. Und über humorvolle, bewusste Wege, die uns über diese Bilder und Boxen hinauswachsen lassen. 

Es gibt ein paar kulturell eindeutig etikettierte Boxen, die uns im Alltag begleiten und unsere Handlungsmöglichkeiten einschränken. Wenn ich nur „Frau“ sein kann (und das, was „Frau“ in meiner Kultur ausmacht), entgehen mir Möglichkeiten, die „Männer“ in unserer westlichen Gesellschaft haben. Und andersherum. Diese Boxen haben wir über viele Jahre gezimmert: Aus dem, was wir in unserem Umfeld beobachten und erleben konnten und mithilfe all der Menschen, die uns klein und groß gemacht haben. 

Was haben diese Boxen mit Sexismus zu tun? Marie und Charlotte haben eine Definition ausgewählt, die so weit gefasst ist, dass wirklich jede*r sich darin wiederfinden kann: Ich bin dann sexistisch, wenn ich von anderen Personen aufgrund ihres Geschlechts etwas erwarte, z.B. ein bestimmtes Verhalten. Das heißt: Ja, auch ich bin immer wieder sexistisch. Das tut weh. Doch an diesem Abend ging es nicht um Schuldzuweisungen oder lähmenden Frust angesichts der gegenwärtigen Situation, vielmehr um die Frage, wie es anders geht. Bewusster. Vielfältiger.

Begriffsklärung
Wir wachsen auch im 21. Jahrhundert noch in einer heteronormativen Matrix auf. Mit Werten, Idealvorstellungen und Normen, die unsere Bilder von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bestimmen. Diese Bilder sind kulturell und historisch geprägtUnd wie das mit einer Matrix so ist: Solange wir uns innerhalb von ihr bewegen, wissen wir oft gar nicht, dass es sie gibt. Sie wirkt wie ein subtiler Filter, der uns schon in einem frühen Stadium diejenigen Bedürfnisse unterdrücken oder ausschließen lässt, die nicht „männlich“ bzw. „weiblich“ sind. Und in diesem Prozess wirkt wenig Biologie und viel Kultur.

Peter Wagenknecht skizziert den zentralen Begriff der Queer Studies folgendermaßen: Die Heteronormativität drängt die Menschen in die Form zweier körperlich und sozial klar voneinander unterschiedener Geschlechter, deren sexuelles Verlangen ausschließlich auf das jeweils andere gerichtet ist. Heteronormativitätwirkt als Kategorie des Verstehens undsetzt ein Bündel von Verhaltensnormen. Was ihr nicht entspricht, wird diskriminiert, verfolgt oder ausgelöscht (so in der medizinischen Vernichtung der Intersexualität) ().

Als Menschen sprechen, denken, handeln

Anstatt von männlichen/weiblichen Eigenschaften oder Tätigkeiten zu sprechen, ist es sinnvoll, zu sagen, was ich ganz konkret meine. Denn indem ich eine Tätigkeit (z.B. Schränke aufbauen oder Auto fahren) als „männliche“ Tätigkeiten deklariere, mache ich es mir - als weiblich sozialisiertem Menschen - schwer, diese Tätigkeiten selbstbewusst auszuüben oder auch nur zu erlernen. Ich habe bislang kaum je einen Hammer in die Hand genommen, während mein Partner mit Enthusiasmus ein Regal nach dem anderen aufbaut. Er steigt freudig und selbstbewusst hinter das Lenkrad, ich eher zaghaft und ängstlich. Ich hantiere mit großer Sicherheit in der Küche und registriere alle Empfindungen im Raum, während mein Partner bei jeder Paprika fragt, wie groß er sie schneiden soll und für Spannungen im Raum eher unempfindlich ist. Diese Bilder sind überzeichnet, kommen aber an die Lebensrealität vieler heterosexueller Paare nah heran.

Wichtig: Das muss nicht so sein. 

Ja, es gibt männliche und weibliche Strategien, möglichst gut und unbeschadet durch das Leben zu gehen. Aber das sind keine natürlichen, genetisch vorgegebenen Strategien, sondern vielmehr Zuschreibungen. Und wenn wir diese hinterfragen, dann können wir entscheiden, ob wir sie wirklich fortschreiben wollen. Oder aber wir können es wagen, über die vertraut gewordenen Boxen und Kategorien hinaus wahrzunehmen, was tatsächlich in mir ist - und ausgedrückt werden möchte. Ganz unabhängig von meiner biologischen Geschlechtsidentität. Oder: Unabhängig von Penis, Vagina und Brüsten. 

Es stellt sich während des Abends das Gefühl ein, dass sich mit dem Mensch-Sein unser Horizont beträchtlich weiten könnte. Iris ahnt da einen „Glanz der Erweiterung“. 

Neue Möglichkeiten und Fähigkeiten 

Es kann ganz schön anstrengend sein, aus der Norm auszutreten. Zum Beispiel, wenn als Frau mein sehr kurzes, als Mann mein sehr langes Haar von vielen Menschen kommentiert wird. Ich muss richtig viel Energie und Mut aufwenden, um als Frau mit dunkel behaarten Beinen (männliches Attribut) entspannt durch Berlin, München oder Köln laufen zu können. Im ZEGG geht das schon leichter, weil sich hier auch andere Frauen dafür entscheiden, ihre Beine nicht zu rasieren. Und Männer, die Röcke und Kleider tragen, sind bis heute mutige Einzelexemplare - jedenfalls in unserem westlichen Kulturkreis (auch im ZEGG!). 

Auf der Ebene von Körperkraft wäre es spannend, weiter zu erforschen, wozu Frauen und Männer bei konsequenter gleicher Förderung und Übung fähig sind. Charlotte und Marie äußern starke Zweifel, dass Körperkraft abhängig ist vom Geschlecht: Ja, da sind anatomische Gegebenheiten. Viel resultieren tue daraus nicht. Ich selbst? Weiß es nicht.

Mit Freude am Rand meiner Komfortzone

Marie und Charlotte geht es auch darum, das Ganze weniger ernst zu nehmen. Und vor allem: um Entscheidungsfreiheit. Denn auch das Rebellieren gegen eine Geschlechter-Box ist noch mit ihr identifiziert und nicht wirklich frei. Solange ich als Frau beweisen muss, dass ich ebenso stark, zielstrebig und forsch sein kann wie ein Mann, bewege ich mich noch immer in den gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Aber auch „Rebellion ist eine Stufe auf dem Weg zu Ganzheit“, ergänzt Marie. 

Am Schluss stand die Frage im Raum: Was ist dein Experiment für die kommende Zeit, um aus deiner persönlichen „Geschlechter-Box“ zu klettern? Meine Herausforderung ist es, mich auf Spiele und Sportarten einzulassen, wo es um Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Technik und Kraft geht. Da melden sich meine alten Glaubenssätze („Ich kann das nicht!“) besonders laut. 

Der Spagat für alle, die das Thema bewegt: Heute bestehende Strukturen so sehen, wie sie sind und mit ihnen umgehen - und dabei das Ziel (ganz Mensch-Sein) im Auge behalten. Schutz- und Erfahrungsräume schaffen, in denen neue Erfahrungen gemacht und integriert werden können. Zum Nicht-Wissen stehen und zugleich eine kraftvolle Perspektive einnehmen. Neugierig forschen.