Von Mara Löffler
Ein weitläufiges Gelände, grün, geschützt und doch aufregend. Als Achtjährige habe ich das Kind-Sein unter Kindern im ZEGG in vollen Zügen genossen. Mit dem „Kinderhaus“ gibt es hier seit jeher einen Ort, der ganz klar den Kindern und ihren Bedürfnissen gewidmet ist. Dieser Ort verändert sich und lebt von den Kindern und Erwachsenen, die ihn beleben.
Unter anderem deshalb ist mir dieser Text ein Herzensanliegen: Er ist zugleich Reflexion, Wertschätzung und Plädoyer. Auf dass hier noch viele Generationen kluger, selbstbewusster und (mit-) fühlender Kinder heranwachsen, die in ein sicheres Beziehungsnetzwerk eingebettet sind.
Sehnsucht nach einem Ort…
Meine Mutter ist mit uns Kindern von der flirrigen Großstadt aufs Land gezogen. Mein Bruder war sechs, ich zehn Jahre alt. Für einige Zeit konnte ich ihre Beweggründe nicht nachvollziehen, habe mich entwurzelt und einsam gefühlt und in mich zurückgezogen. Heute verstehe ich besser, was sie damals bewegt hat: Für Mama war klar, dass sie nicht mehr allein mit zwei Kindern in einer Berliner Mietwohnung leben will. Dass sie Gemeinschaft auch räumlich leben will.
Diese zwei Gründe - Kinder und Gemeinschaft - waren die Antriebskräfte, die sie brauchte, um einen riesengroßen Schritt zu machen. Ja, wir hatten auch in Berlin andere erwachsene Bezugspersonen, die wir viel besucht haben (oder sie uns). Die lebten entweder in der Wohnung unter uns, schräg gegenüber, drei Straßen weiter oder eine halbe Stunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt. Ein wertvolles Netzwerk, aber für ein richtiges Gemeinschaftsgefühl lagen da zu viele mehrspurige Straßen, quietschende Straßenbahnen und Baustellenstaub dazwischen.
Seitdem ich selbst ein Kind in meinem Bauch trage, wächst mit dem kleinen Wesen auch die Klarheit in mir, dass ich diesem Kind die Möglichkeit geben will, mit anderen Kindern aufzuwachsen. Mit anderen Erwachsenen, zu denen es leicht eigene Freundschaften knüpfen und pflegen kann. Und einen geschützten Ort, an dem es sich frei bewegen und entfalten kann. Wild sein, spielen, Mama und Papa saublöd und furchtbar ungerecht finden und mit ein bisschen Abstand wieder in ihre Arme fallen. Einen Ort, an dem ich als Mama menschlich sein und Fehler machen kann, ohne dass mein Kind deren Konsequenzen ausbaden muss. Einen Ort, an dem ich Unterstützung erfahre; an dem ich lernen und üben kann, wie wir Kindern tatsächlich Wurzeln und Flügel schenken.
Das ZEGG mit dem Kinderhaus ist so ein Ort.
… an dem Kinder und „Ältern“ sein können
Lars (7) ist in Bad Belzig geboren. Für Anja, die seit 9 Jahren im ZEGG lebt, war diese zweite Muttererfahrung eine ganz andere als ihre erste. Hier im ZEGG ist der ganze weitläufige Platz ihr Zuhause. Lars kannte die Hälfte der hundert Namen, bevor er richtig sprechen könnte. Für Anja ist das der Inbegriff einer dörflichen Bindungsgemeinschaft: „Als Lars noch klein war, war da zum Beispiel Madlein, die einmal pro Woche mit ihm durch den Wald getigert ist. Lars konnte dabei im Kinderwagen einschlafen und der war für Madlein wiederum eine wichtige Unterstützung beim Spazierengehen. Und auch als Lars größer wurde, hat er sich in der Gemeinschaft unabhängig von Mama oder Papa seine Erwachsenenfreunde ausgesucht. Das geht nur in einer Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.“Daneben gibt es noch zahlreiche Beispiele von Menschen in der Gemeinschaft, die für die Kinder eine weitere, ganz nahe Bezugsperson werden, sie regelmäßig ins Bett bringen oder mit ihnen die Region erkunden.
Dieser Platz ist außerdem ein sicherer Ort. Die Kinder können sich schon früh gegenseitig besuchen - da ist in der Stadt oft nicht dran zu denken.
„Ich bin mit Lars im Kinderhaus gestartet, da war eine hohe Aufbruchsstimmung. Wir haben damals viel umgebaut und renoviert. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass es bis zum Alter von 4 Jahren eigentlich gar keine großen Gruppen braucht - für Lars zumindest waren größere Gruppen wie die im Kindergarten uninteressant. Es war auch sichtbar, dass ein derart mit dem Platz verwurzeltes Kind wie Lars schwer in eine Betreuungseinrichtung zu integrieren ist. Wir waren immer dann im Kinderhaus, wenn genug Eltern da waren, die gesagt haben: Wir tragen das jetzt gemeinsam.“
Diese Erfahrungen waren für Anja als ein im Osten aufgewachsenes Kind vollkommen neu: „Ich wurde schon ganz früh fremdbetreut, während es hier wichtig ist, dem Kind ausreichend Zeit mit den engsten Bindungspersonen zu geben. Zeit für alle Parteien, um einander kennenzulernen. Klar, es bleibt auch hier ein Balance-Akt, als Eltern ganz da zu sein und dabei noch den Lebensunterhalt zu verdienen. Es geht aber viel leichter, als mit meiner großen Tochter. Die musste von 8 bis 16 Uhr in den Kindergarten - ich kannte keine Alternative, außer mich zu verdoppeln.“
Kindercamps in der Gemeinschaft
Während der zwei großen Festivals, Pfingsten und Sommercamp, die mehrere hundert BesucherInnen anziehen, gibt es seit vielen Jahren ein „Kindercamp“. Dort wird für Zirkusnummern und Theaterstücke geprobt, Schmuck hergestellt, gemalt, gestritten, gebadet, mit Schlamm geworfen und gelauscht, wenn Pippi Langstrumpf ihre Abenteuer erlebt. In den letzten Jahren haben die Kindercamp-Leiterinnen die Erfahrung gemacht, dass hier eine kleine Parallelwelt entsteht, die nur wenig in das Gesamtgeschehen der Festivals eingebunden sind. Denn auch bei den Eltern, die die Festivals besuchen, überwog oft die Erleichterung: Zum Glück sind die Kinder tagsüber betreut.
Diese gefühlte Trennung verlangte nach neuen Lösungen. So entstand für das Sommercamp 2018 die Idee, dass die ZEGG-Ältern und Kinder in einem eigenen Zeltdorf leben und von dort aus gemeinsam das diesjährige Kindercamp gestalten. Mit Erfolg: Die Kinder waren im Großzelt sichtbarer und hörbarer als zuvor - und willkommen. Und erstmals gab es am Nachmittag eine feste „Älterngruppe“für alle Themen, die im Sein mit den Kindern, in der Partner- und Elternschaft auftauchen (das seien häufig die spannendsten Themen, munkelt man).
Wer sind diese „Ältern“ und warum gehen sie zur Schule?
„Für mich ist es ein großer Erfolg, dass das Kinderhaus bis heute besteht und lebt. Schade ist, dass wir so wenige sind und Eltern immer wieder wegziehen“fasst Anja zusammen, „eine tolle Errungenschaft ist die „Älternschule“.
Ältern schreiben sich hier mit „Ä“, weil dazu nicht nur die leiblichen Eltern gehören, sondern unterschiedliche Menschen, die älter als die Kinder sind und ihnen als Reisebegleiter*innen ins Leben zur Seite stehen. Das sind Wahl-Großeltern, Paten, Kinderhausbegleiter*innen und junge Erwachsene mit Kinderwunsch, die sich schon vor der Entscheidung bewusst mit dem Kinderaufwachsen auseinandersetzen.
Im Grunde ist die Älterngruppe offen für jede(n), die oder der am Aufbau einer neuen Kultur des Kinderaufwachsens interessiert ist. Einmal wöchentlich findet ein Forum statt und sorgt immer wieder für Intimität, Informationsfluss und Entspannung. Viermal im Jahr kommen für die Älternschule Referent*innen ins ZEGG und bringen eine Art „geistigen Überbau“ mit. So jedenfalls fühlte es sich für mich an, als ich diesen Sommer dabei war. In den dreieinhalb Tagen hat sich das Thema „Familie in Gemeinschaft“in seiner ganzen Vielschichtigkeit gezeigt. Normalerweise trägt die Familie - Mutter, Vater, Kind(er) - ihre Liebesfragen, Verletzungen und Hilflosigkeit allein. Solange, bis entweder alles auseinander kracht oder ein Kompromiss vorübergehend Entspannung bringt.
It’s all about…Einbettung
Gabriele, die aus der Tamera-Gemeinschaft in Portugal anreiste (wo sie den Platz der Kinder aufgebaut hat), um diese Älternschule zu gestalten, ist überzeugt, dass wir mit gemeinschaftlicher Einbettung sowie spirituellem Wissen - einer höheren Perspektive - leichter aus unseren Familien- und Beziehungsdramen aussteigen können. Und das ist schon deshalb so wichtig, damit Kinder nicht die ungelösten Konflikte ihrer Eltern auf ihre Schultern laden und sich schuldig fühlen für deren Spannungen, Streit oder Trennung. Mit Einbettungder Familie in Gemeinschaft ist gemeint, dass wir die Angst davor verlieren, andere Menschen in unser Inneres schauen zu lassen. Denn das, was wir aus tiefstem Herzen lieben, was wir schützen wollen, gehört in die Gemeinschaft. Dieser Schritt ist so heikel, weil wir fürchten, missverstanden zu werden - und in ihm liegen große Möglichkeiten des Aufgehobenseins und der Verbindung.
Im Äußeren sieht eine aktive Einbettung so aus, dass ein kleinerer Kreis von Menschen der Familie auch räumlich nah ist und mitkriegt, was passiert. Menschen, die dann da sind und nachfragen, wenn wir an innere Schmerzstellen kommen, wo wir uns nur noch zurückziehen wollen.
Ich wurde durch die Älternschule daran erinnert, warum der Aufbau eines liebevollen Feldes, in das Kinder hineinwachsen können, eine politische Aufgabe ist. Wenn es gelingt, auch für die Jüngsten ein weites, ehrliches und klares Gefäß zu bilden, in dem Gefühle, Bedürfnisse und Konflikte ihren Platz finden, dann wächst eine Generation heran, die manche Fehler nicht mehr wiederholen muss - und aus neuen, eigenen Fehlern lernen darf. Dieses Feld ist kontinuierlich in Veränderung begriffen, so wie die Gemeinschaft als Ganzes: durch neue Strömungen und neues Wissen. Hier im ZEGG zum Beispiel durch die Gewaltfreie Kommunikation, die Gefühlsarbeit nach Vivian Dittmar oder das Possibility Management. Die tiefe Sinnhaftigkeit, die irgendwo zwischen Po abwischen, Schaufel-Streit und Obstpause manchmal verloren gehen mag, wird durch einen geistigen Ort wie die Älternschule wieder greifbar.
Bindung und Freiheit, Grenzen und Kontakt
Im Kinderhaus geht es darum, dass Kinder sichere Bindung und Freiheit erfahren - Wurzeln und Flügel mit auf ihren Weg bekommen. Hierfür brauchen sie Eltern und andere Bezugspersonen, an deren Grenzen sie sich reiben und erkennen können, um in ihrer eigenen Geschwindigkeit in die Welt zu gehen. Das Kinderhaus will ein Ort sein, wo jedes Wesen sich ganz entfalten darf und alle Gefühle - auch Wut, Trauer und Angst! - willkommen sind. „Wer einem anderen eine Grenze setzt, gibt ihm Gelegenheit für Kontakt“sagt Gabriele. Dennwenn Erwachsene erwachsen Grenzen setzen, übernehmen sie damit die Verantwortung für den ausgelösten Frust des Kindes. Die gesetzte Grenze braucht einen Raum, in dem das Kind weinen und toben darf.
Eine weitere wesentliche Grundannahme: Kinder wollen aus sich heraus lernen und sich entwickeln, die Erwachsenen schaffen dafür„nur“einen sicheren Rahmen. Deshalb ist hier die Rede von begleiten statt von erziehen. Im Sein mit den Kindern gibt es vier unterschiedliche Modi: Den der beobachtenden Neugier und Präsenz; den des Spiels auf Augenhöhe; den „Anker-Modus“, wobei die Erwachsenen ihren Tätigkeiten nachgehen, aber ansprechbar sind und die Kinder einbeziehen; und schlussendlich den der kreativen Impulse, die zum forschen und ausprobieren einladen.
Kinderaufwachsen als Friedensarbeit
Schon im Gründungsimpuls des ZEGG ist das Kinderaufwachsen enthalten: Eine Kultur erschaffen, in der Menschen sich frei und ihrem Potenzial entsprechend entfalten können. Ich möchte Kristina das Schlusswort geben: „Was wäre, wenn wir uns tatsächlich auf eine Weise gegenseitig unterstützen, die für die Kinder einen Raum eröffnet, in dem sie jenseits unserer Verletzungen, Muster und Glaubenssätze aufwachsen? Dann geht es nicht um ‚mein Kind‘, das zu einem guten Menschen heranwächst, sondern um das Aufwachsen einer wachen, aufmerksam fühlenden und sich aufeinander beziehenden Generation. Und das ist Friedensarbeit für mich.“