Betrachtungen zu einer notwendigen Auseinandersetzung von Mara Löffler
Ich bin vor einigen Monaten neu ins ZEGG gekommen – als Freiwillige, die schreibend an der Ausrichtung des ZEGG feilen und das Erfahrungswissen, das ich hier sehe und wertschätze, in die Welt tragen will. Gleich zu Beginn wurde ich zur Intensivzeit der Gemeinschaft eingeladen, die sich dem Thema „Liebe, Sex und Wahrheit“ widmete. Dabei ging es um persönliche Erfahrungen, Verletzungen und Heilung in der Sexualität - und insbesondere auch um die Schattenseiten. Ein Ausdruck der Bereitschaft und des Bedürfnisses, sich mit #metoo, Sexismus und Einvernehmen auch hier im ZEGG zu beschäftigen.
Schon bevor ich hier gelandet bin, hat mich #metoo beschäftigt. Ich war schnell der hitzigen Schuldzuweisungen, verhärteten Fronten und Täter-Opfer-Rollen müde und immer wieder einfach ratlos. Ich will eine Welt, in der Menschen gut für sich und ihre Grenzen sorgen können. Und Beziehungen auf Augenhöhe. Respekt zwischen Männern und Frauen. Verdammt nochmal, ist das so viel verlangt? Besonders wünsche mir, dass wir uns als Individuen und als Gemeinschaft zu solchen Themen äußern, die auch uns nahe gehen. Trotz Ladung und Hemmschwellen.
Auf geht’s.Tief durchatmen und ein bisschen Sachlichkeit in die Debatte:
Was ist eigentlich „Sexismus"?
Laut Wikipedia ist Sexismus der Oberbegriff für vielfältige Einzelphänomene bewusster oder unbewusster Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Diese Einzelphänomene bewirken einen ungleichen sozialen Status von Männern und Frauen und sind in Gesellschaften institutionalisiert, weshalb sie individuell schwer zu überwinden sind. Moderner Sexismus ist die Leugnung, dass es eine solche Diskriminierung überhaupt gibt und der Widerstand gegen Maßnahmen, die sie abbauen wollen. Ängste vor der Destabilisierung hierarchischer Ordnungen und bestehender Privilegien füttern Sexismus.
Damit unterscheidet sich Sexismus von sexuellen Übergriffen, die konkretes, auf Sexualität bezogenes Verhalten meinen, das nicht gewünscht ist. Sexismus ist umfassender und gleichzeitig viel schwieriger zu fassen. Eine Hand auf der Hüfte lässt sich eindeutiger als falsch erkennen und benennen - für mich, hier, in diesem Moment - als abstrakte Machtgefälle.
Ein Kollege, dessen Herangehen an komplexe Themen ich schätze, schrieb in einem Essay, dass #metoo die Gelegenheit für uns alle sein sollte, um richtig dazu zu lernen. Die trotzige Frage „Was darf man(n) denn jetzt überhaupt noch?“ will meist gar keine Antwort hören. Denn die Antwort ist theoretisch nicht kompliziert: Das, was für die oder den anderen auch angenehm ist.
Auch für das ZEGG steht in meiner Wahrnehmung ein feiner Balance-Akt an. Der erste Schritt: Anerkennen, dass die Menschen hier nicht in einem patriarchatfreien Raum leben und Abschied von der Illusion, dass das ZEGG bereits das ist, das zu sein es angetreten ist. Auch hier gibt es blöde Sprüche, von denen Frauen sich zum Objekt degradiert fühlen, hier gibt es Umarmungen, die plötzlich einseitig erotisch werden und unsensible Annäherungsversuche.
Der nächste Schritt ist die Frage, wie wir diesen - oft subtilen - Grenzüberschreitungen ganz praktisch und mit der angemessenen Ernsthaftigkeit begegnen, ohne eiserne Dogmen aufzustellen. Die allgemeine Verunsicherung kannein guter Ausgangspunkt sein für Verständigung und Verstehen, für mehr Offenheit, Verletzlichkeit und Da-bleiben mit dem, was wir fühlen. Heilung ist auch ein gemeinschaftlicher Prozess.
Konsens und Einvernehmlichkeit sind die Schlüsselbegriffe. Und hier wird die theoretisch einfache Antwort eben doch kompliziert. Wie können wir sicher sein, dass unser Gegenüber wirklich „Ja" meint, wenn es insbesondere weiblich geprägten Menschen noch immer so schwer fällt, rechtzeitig „Nein“oder „Stopp“zu sagen? Wortlosigkeit, Verstummen und Lähmung gehen einer überschrittenen Grenze oft unmittelbar voraus. Wie oft habe ich schon „Ja" gesagt, weil ich jemanden nicht vor den Kopf stoßen wollte, weil ich liebens- und begehrenswert sein und bleiben wollte. Nicht den Flow unterbrechen, der Luft ihr Knistern nehmen… Und oft sind da noch verschiedene andere Stimmen in mir, die wahlweise flüstern oder brüllen. Ein leises „Nein“darf für mich Grund genug sein, es mit meinem Gegenüber in Kontakt zu bringen. Besonders in der Sexualität, wo ich mich nackt zeige und nach Verbindung sehne.
Authentischer Kontakt kann entstehen, wo konkrete und immer wieder neu definierte Räume durch klare Kommunikation aufgeschlossen werden. Wie übernehme ich Selbstverantwortung für meine gewählten oder übernommenen Rollen? Wann bin ich unerfüllt, weil ich abwarte oder versuche, meine Bedürfnisse irgendwie über Umwege zu befriedigen? Immer da, wo keine oder unklare Abmachungen zwischen zwei Menschen bestehen, begegnen wir Schatten. Verändert sich die Situation, meistens fließend, müssen Grenzen neu gefühlt und definiert werden, dann braucht es ein neues „Ja", zum Beispiel bei einer Massage: Ist das noch angenehm für dich, wenn ich deinen Bauch berühre?
Ich wünsche mir Orte, an denen bisher schwer oder Unsagbares - wie zum Beispiel ein klares „Nein", das nur für mich steht, nicht gegen den anderen – leichter sagbar wird. Schutz- und Spielräume, die genügend Sicherheit(en) bieten, damit Frauen wie Männer das üben können, was die meisten von uns früh verlernt haben: Bedürfnisse äußern, eigene Grenzen setzen und andere respektieren, zugeneigtes und konstruktives Feedback geben. Die eigenen Muster erfahren und erforschen.
Das ZEGG kann so ein Ort sein: Nicht perfekt, aber auf dem Weg für ein freieres und gutes Leben, für möglichst viele Menschen. Und wir haben hier einen großen Schatz: Eine Fühlkultur, die sich mit Trauer, Wut, Scham und Angst auseinandersetzt. Denn gerade das Nicht-Fühlen-Können ist oft die Grundlage für Grenzüberschreitungen: Wenn ich keine Trauer oder Scham empfinden kann, spüre ich mich und andere weniger gut und gehe eher über Unstimmigkeiten hinweg. Wenn ich meine gesunde Wut - als Kraft, die im richtigen Moment „Nein“ sagt - nicht fühlen kann, kann ich meine Grenzen nicht wahren.
Dass das ZEGG das kommende Pfingstfestival nun zum Thema Sexualität ausrichtet ist auch Ausdruck der Bereitschaft und des Bedürfnisses, sich (nicht mehr nur intern) mit #metoo, Sexismus und Einvernehmen zu beschäftigen.
Am Ende der Gemeinschafts-Intensivzeit stand unter anderem die Erkenntnis, dass aktuell im ZEGG kein klarer Konsens darüber herrscht, wie ein „guter“ Umgang mit Annäherung, Anziehung und Kontaktaufnahme aussehen kann - insbesondere, wenn wir uns in Hierarchien bewegen: Zwischen Kursleiter*innen und Teilnehmer*innen, zwischen Anwohner*innen und Gästen, zwischen (sexuell) Erfahrenen und weniger Erfahrenen usw. Wenn strukturelle Dynamiken und Hierarchien wirksam sind, können wir nicht nur von Selbstverantwortung und individueller Arbeit sprechen.
Traumata, ganz besonders in der Sexualität, sind wirklich. Kaum einer von uns ist nicht traumatisiert - wenn auch in völlig unterschiedlichen Abstufungen:
https://www.rubikon.news/artikel/traumatisierte-gesellschaft
Jeder, der in seinem Umfeld etwas wahrnimmt, was nicht stimmig scheint, kann Verantwortung übernehmen und nachfragen: Bist du okay? Braucht ihr was? Auch das ist Gemeinschaft für mich: Sie bettet diejenigen ein, die gerade nicht gut für sich selbst sorgen können, die ihre Grenzen nicht fühlen und setzen können. An einem Modellort wie dem ZEGG ist eine klare Haltung noch stärker Pflicht als an Orten, die weniger bewusst, weniger achtsam mit diesen Themen in Berührung sind.
Die letzten Monate haben nicht nur in mir vieles in Bewegung gebracht. Befürchtungen wurden an die Oberfläche geholt, haben Raum und Worte bekommen und es ist klar: Die Beschäftigung damit, wie eine sexpositive Kultur im ZEGG aussehen kann, will und muss weitergehen.
Mara Löffler
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