Ein Bericht von Rachel Edwards
10:30 Uhr, fünfter Stock, ein Yogastudio in Berlin-Kreuzberg. Über sechzig bunt zusammen gewürfelte Menschen sitzen verteilt auf ein paar Matratzen oder auf Yogawürfeln im Kreis. Die Stimmung ist vorfreudig und erwartungsvoll und eine Spur orientierungslos. Noch ist nicht ganz klar: Wohin soll es heute gehen? Klar ist nur: Dieser Tag ist ein Experiment. Was hier heute passiert, wird es so noch nicht gegeben haben.
„Zuschauen war gestern!“ heißt das Format, das von Cordula Andrä und Simon Schramm für das ZEGG entwickelt wurde. Es soll ein Begegnungsraum entstehen, in dem man gemeinsam nachdenkt, fühlt, sich vernetzt und vor allem - aktiv wird. Es soll ein Tag in Ko-Kreation werden für gesellschaftliche Wirksamkeit. Alle, die kommen, gestalten mit. Soweit die Idee.
Cordula und Simon laden mit ihrer Transparenz direkt einen Austausch auf Augenhöhe ein. Simon stellt Ideen der Tiefenökologin Joana Macy vor, auf deren Grundlage sich jede/r Anwesende selbst in seinem bisherigen Wirkungsbereich verorten kann. Es wird unterschieden zwischen drei Formen des Engagements. Der erste Bereich ist der von radikalem Aktionismus, offenem Protest und Widerstand. Er steht für die Stimmen, die „Nein! Stop! So geht es nicht weiter!“ sagen und Dinge nicht hinnehmen, sondern dagegen angehen. Der zweite Bereich entwickelt neue Strukturen, lebt Alternativen und probiert Neues aus. Dieser Bereich umfasst Gemeinschaftsprojekte, Car-Sharing, Bio-Gemüse-Abo´s & Co - alles Initiativen, die neue Lösungsansätze entwickeln. Im dritten Bereich geht es um die Veränderung im Bewusstsein, um Bewusstseinstransformation. Also den Sprung, wenn eine Veränderung erst individuell und dann kollektiv als sinnvoll erkannt wird. Ein Beispiel dafür ist der Wandel von Konkurrenz zu Ko-Kreation.
Nach diesem Input kommt Bewegung in den Raum. Die Forschungsfrage animiert: Wo und wie warst du bisher aktiv? Vorwärtsstürmend-aktivistisch, experimentell umsetzend oder bewusstseinsverändernd? Und wo zieht es dich in Zukunft hin? An verschiedenen Stationen im Raum wird eingeladen in sich selbst nachzuforschen. Beim Austausch wird klar: Die drei Bereiche haben unterschiedliche Herangehensweisen und doch ergeben sie nur zusammen ein Ganzes und greifen ineinander.
Vor der Mittagspause wird es nochmal spannend. Wer möchte am Nachmittag im Open-Space einen Workshop anbieten? Für eine Sekunde ist es, als würden alle die Luft anhalten. Die Frage steht ganz offen und verletzlich da und wartet. Tausend Gedanken scheinen in sechzig verschiedenen Köpfen gleichzeitig durch den Raum zu schwirren. Will ich etwas anbieten? Was ist, wenn die anderen mein Angebot nicht mögen? Spannung. Und dann – steht der Erste auf. Und nach ihm die Nächste und der Nächste und die Nächste. Freude kommt auf. Die Lust, zusammen zu wirken und gemeinsam etwas zu erschaffen wird mit einem Mal spürbar. Am Ende sind zehn Angebote auf der Open-Space-Stellwand versammelt. Workshops zum Thema Tierschutz, Aktivismus und strukturelle Gewalt, lokale Vernetzung in Berlin, #Me Too und Männer als Täter, Missbrauch in Schulen, Politik mit Herz, nachhaltiger Tourismus, Verbindung von Kopf und Herz und eine Gruppe, die einen gemeinsamen Flashmob vorbereiten will. Die Stimmung zur Pause hin ist ausgelassen und animiert.
Als alle einige Stunden später alle wieder zusammen kommen ist viel passiert. Familiär, entspannt und verbunden hockt man zusammen. Während des Open-Space entstand ein Flow. Nicht alle haben alles mitbekommen. Und doch ist am Abend die Veränderung im Raum spürbar. Heute ist Begegnung passiert. Themen wurden diskutiert, neue Gedanken gedacht, Wissen ausgetauscht, persönliche Geschichten geteilt, Pläne für zukünftige Gruppen geschmiedet. Gefühle bekamen Raum, Menschen haben sich gegenseitig gehört und inspiriert und Steine wurden ins Rollen gebracht. Nur Zuschauen, das war gestern. Heute wurde Verbindung kreiert. Es wird jetzt eine regelmäßige regionale Berlin-Gruppe geben. Und diese Veranstaltung soll nicht die Letzte bleiben. Das nächste Mal wird gemeinsam mit einer größeren Gruppe vorbereitet, schnell finden sich fünf Menschen, die sich für eine Fortsetzung interessieren. Bei einem Bierchen in einer Berliner Kneipe soll zusammen gebrainstormt werden, so dass das Format tatsächlich auch in der Organisation eine Ko-Kreation wird. Es war ein Experiment. Die Ergebnisse sind beglückend. Und jetzt - Jacke an und alle raus zur Warschauer Straße. Es steht noch ein Flashmob aus!
Der Tag endet mit einer ausgelassen Party am Abend. Mit etwas Live-Musik von Nuria Edwards wird gekuschelt und danach bei Musik von DJ Duda fröhlich, schamlos und wild getanzt. Und was ist jetzt genau in der Zeit vom Open-Space zwischen Pause und Abend passiert? Finde es selbst heraus und sei von Herzen willkommen beim nächsten Mal, denn: Zuschauen war gestern!
Rachel Edwards